Das Haus, in dem
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Nur Teile und Stücke. Trümmer, Abschnitte, Fetzen, Schnipsel und Notizen eines anderen Verlieses. Ich erinnere mich nicht an Bilder, Namen, Titel, Geflüster, Schreie, Gerüche, Gestank, Schmutz und Reinheit. Ich erinnere mich nicht daran, was passiert ist und was nicht, an das Bedeutsame und das Gesichtslose, an das Wichtige und das Alltägliche. Ich verweigere die Erinnerung.
Aber wenn ich das symmetrische graue Chruschtschow-Hochhaus in der nächsten deutschen Nachrichtensendung sehe, bleiben Nadeln unter meinen Fingernägeln stecken. Der Fleischwolf des darauf folgenden Prärietages heult und jammert. Ich bin hin- und hergerissen von dem, was man gemeinhin als das Vorher und Nachher bezeichnet.
Ist es nicht das, was Sie, meine Damen und Herren, Nostalgie nennen?
Das Problem ist nur, dass ein "Vorher" bei der Ankunft am Ziel automatisch zu einem "Nachher" wird.
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Ein Gefühl von herrlich zärtlicher Sehnsucht, so, nun ja, wie überwunden, aber unerschütterlich nimmt Gestalt an.
-Weißt du noch, wie wir früher gespielt/getanzt/gespaßt/getrunken/geraucht/gegessen/getötet/und weggelaufen sind? (unterstreichen Sie einfach die entsprechende Stelle)
-Und ich erinnere mich nur an die toten Gesichter, die kürzlich ihre Toten begraben haben.
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Auf dem bläulichen Bildschirm in unserem Wohnzimmer läuft wieder das unübersetzbare Wortspiel einer Sendung über die Krankheit eines Kindes.
"Spendenaktion für die Krebsbehandlung des kleinen Arkady, drei Jahre alt, so lebendig und schon so sterblich."
Dann eine Sendung über eine Detektivarbeit.
Meine Mutter berichtet, dass sie eine gute Polizistin gewesen wäre.
Ich denke daran, wie sie mich jetzt legal verprügeln würde.
Nachrichten um 20:00 Uhr Moskauer Zeit. Aber nichts Berichtetes.
Würden Sie, meine Damen und Herren, gerne Spenden für das Gewissen sammeln?
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Die russische Welt ist auf den Boden der Unpolitischen gefallen. Über Politik redet man wie über tote Menschen: "Entweder gut oder nichts".
Aber dennoch steht es mir nicht zu, zu urteilen, denn ich bin geflohen.
Und doch steht es mir nicht zu, zu urteilen, denn ich habe mich nicht gewehrt.
Und doch, wenn es nur jetzt so wäre.
Aber trotzdem, es ist so lange her und so unendlich spät.
Ich frage mich nur, ob der Krankenwagen oder die Polizei schneller bei mir sein werden, wenn ich aussage.
Denn ich sterbe an einer Nostalgie, die in ihrer Sinnlosigkeit kriminell ist.
"Sagen Sie aus, um Gottes willen."
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Die Rechte, sagten sie, ist von Christus, und die Linke ist vom Teufel.
Und hier weiß ich nicht, aus welchem Grund in dieser riesigen Weite des Landes sich alle in zwei Städte auf der linken Seite drängen.
Und hier weiß ich nicht, aus welchem Grund in dieser riesigen Weite des Landes links gegen links und rechts gegen rechts.
Es gibt sie doch, nicht wahr?
Und ich weiß nicht, warum ich mich an diesem riesigen Ding festhalte. Ich kann auf keinen Fall meine Erinnerungen und meine sprichwörtliche Identität in Brand stecken.
Ich erinnere mich nur daran, dass Sie überhaupt nicht für mich gekommen sind.
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Erinnerungen fließen ineinander, vermischen sich zu einem Frühstücks-/Mittags-/Abendessen-Brei und werden zu einem Schlamm der Sehnsucht nach einer rosigen Vergangenheit.
-Du bist gegangen, nicht wahr?
-Ja, das bin ich.
-Assimiliert?
-Ja, ich denke schon.
-Du hast geheiratet, stimmt's?
-Und das stimmt.
Und die gläserne Wand eines jeden Einwanderers in der Mitte zwischen "vorher und nachher" wird bald eine Medaille der Unverwüstlichkeit erhalten.
Und das Eis schmilzt weiter.
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Wir sitzen am Esstisch. Es herrscht eine stille Verwirrung in der Runde. Ihr redet über deutsche Oldies, über aufstrebende Fernsehstars, über Dinge wie Politik, bei denen ich gewisse Lücken in meiner früheren Unpolitikalität habe.
Ich glaube, ich könnte einen Vortrag über Zwetajewa halten. Ich glaube, ich könnte Majakowski auswendig rezitieren. Ich denke darüber nach, dass es keine Untertitel für die russische Kultur gibt und dass dies ein großes Versäumnis ist.
Ich fühle mich langsam unwohl.
"Ah, du schwebst in deinen Wolken und Birken und Feldern."
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Ich erinnere mich an den ekligen Schneematsch des Winters, den flauschigen Schnee auf den Hüten und das Gefühl, dass jeden Tag neues Leben entsteht. Warum sich Sorgen machen, wenn sowieso jeder alles für uns entscheiden wird? Warum sich einmischen, wenn alles schon vorherbestimmt ist? Warum die Vergangenheit aufarbeiten, wenn es eine Treppe ins helle Nirgendwo gibt?
Es ist alles so schön.
Es ist alles so wunderbar.
Alles ist so, wie es sein soll, und es gibt keinen Grund, etwas zu überstürzen.
Aber ein herrliches Gefühl von unendlicher Realität durchdringt meine Gedanken.
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Mit der Zeit gerätst auch du in Vergessenheit.
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Mit der Zeit gerate auch ich in Vergessenheit.
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Mit der Zeit wird die Zeit vergessen sein.
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Das Gedächtnis löscht immer wieder die Nummern und Wegbeschreibungen der Häuser, in denen ich je gelebt habe.
Es ist so befremdend.
So beängstigend.
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Es ist so widerlich, etwas zu vermissen, das nie mehr das sein wird, was es war.
"Was für eine komplizierte Art, es zu beenden."
"Ihr seid alle so kompliziert in eurem Europa."
"Wir brauchen niemanden, der übrig geblieben ist."
Wie kann man sich nicht langweilen, wenn man so denkt?
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Notizen, Worte, aber vor allem Namen und Gesichter werden aus dem Gedächtnis gelöscht. Es ist, als hätte es nie jemanden gegeben. Als ob ich mit niemandem über den Newski oder den Roten Platz spaziert wäre. Als ob ich keine "Gespräche über wichtige Dinge" mit einem manischen Glanz in den Augen geführt hätte. Als ob das alles so unwichtig wäre.
Und doch
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Und wenn man etwas auf Russisch vergisst, kann man sich in anderen Sprachen, Währungen und Umgangsformen immer daran erinnern.
Auf der einen Seite.
Und auf der anderen Seite steht das Haus, in dem....
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Ein Haus, in dem verbrannte Brücken ticken. Unbefristet.
Ein Haus, in dem man über die Unendlichkeit der Zeit bis jetzt nachdenkt. Gefälscht.
Ein Haus, in dem es kein "Vorher" oder "Nachher" gibt. Vor der Reue.
Das Haus steht. Die Lichter sind an. Vom Fenster aus kann man in die Ferne sehen.
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Woher kommt also die Wehmut?
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Silhouetten erloschener Erinnerungen erwachen vor mir zum Leben.
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Das Leben entspringt der Verleugnung.
Mit der Zeit werde ich auch die Toten vergessen.
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Ich werde sie nur als Erinnerung an ein Haus aufbewahren.
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An mein Haus, wo ich jetzt nur Gast bin.