Fetzen
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Meine Liebe,
Es ist entscheidend, wie genau du die Verletzung verursacht.
Es gibt zweifelsohne eine Welt der intimen Beobachtung, gemischt mit Gleichgültigkeit.
Oh, ich liebe mich so sehr. Oh, ich liebe andere so sehr.
Oh, ich würde mich gerne einsperren. Oh, ich würde gerne einen terroristischen Akt begehen.
"Weil wir nicht perfekt sind, sind wir trotzdem perfekt", richtig?
Ich mache nur Gesichter, ohne es zu erkennen.
Du sagst zu mir, ich sei so stark. Du sagst zu mir, es sei meine Karma. Du sagst zu mir, ich sollte dir mein ganzes Leben zum Überdenken geben.
Wir sind nur eine Qual.
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Meine Liebe,
Diesmal ohne Thema. Diesmal ohne Folie eines albernen Lachens in meiner Kehle. Diesmal ohne es damit zu überdecken.
Unzählige Tage und Nächte habe ich geschwankt, diesen Brief zum Wort zu bringen.
Die Worte, die mir auf der Zunge liegen, werden so mühsam und so jämmerlich.
Ich umarme meinen Hals fest, um ihn an den Haken deiner Ansprüche zu hängen.
Nicht dass ich mit diesem Brief die Windrichtung der Dinge ändern könnte.
Doch vielleicht werde ich aufhören, dich in jeder Frau über fünfundvierzig zu sehen?
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Meine Liebe,
ich habe das Gefühl, eine Zeitmaschine zu entdecken.
Die Vergangenheit zieht sich ins Endlose, während ich die Erinnerungen fremder Familien besuche.
- Sieh dir dieses Bild von uns an, so glücklich.
- Oh, dann sind wir in die Stadt gefahren, weißt du noch?
Ich bin still und blass vor Neid.
Du rätst mir, Kinder zu gebären. Meine Finger zittern, wenn ich über die versteinernde Möglichkeit stolpere, dich in meiner Gestalt zu reproduzieren.
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Meine Liebe,
Du sprichst von deiner Nachbarin von gegenüber, die von ihrem Mann misshandelt wird. Im nächsten Satz erzählst du, wie schön deine neue Katze dich von Verlassenheit rettet.
Dieses Gespräch macht mich nostalgisch.
Ob es daran liegt, dass du darauf hindeutest, dass " es für alle im Leben Herausforderungen gibt, die ihren Kräften gerecht werden".
Oder daran, dass ich mich nicht freuen kann, während ich über deine Einsamkeit höre.
Ich empfinde Mitleid. Ich bin wütend auf mich dafür.
Doch sobald ich auflege, fühle ich mich unerträglich traurig.
Ich spüre die unerträgliche Subtilität des Seins.
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Meine Liebe,
du sagst mir immer, ich soll auf die Erde zurückkehren. Sei lockerer. Sei verständlicher. Sei optimistischer.
Nun: Ich bin es geworden.Ich verweile, wo es mir gesagt wird. Ich fresse, was mir gesagt wird. Ich ziehe mich an, wie du es sagst.
Ich spreche einfach nie darüber, dass ich blaue Flecken am Körper habe.
Also, wie du es willst.
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Liebe,
Liebe,
Liebe,
Ich erlebe mich als machtlos und beklage mich selbst.
Ich trauere um die Flammen eines gewissen Maßes an Rachsucht, die in dem Schleier vor meinen Augen lodern.
Während du darüber sprichst, wie schlecht du dich fühlst, tanze ich auf den Leichen meiner Menschlichkeit.
Ach, die unerträgliche Brutalität des Seins.
Die Rache liegt im Auge des Träumers.
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Meine Liebe,
Wir sind mitten in der russischen Propaganda. Ich sage dir eins und du beschimpfst mich für das siebte. Du wirfst mir deine Lügen vor.
- Erinnerst du dich, dass du mich neulich mit einem Holzschläger geschlagen hast? Ich konnte nicht mehr auf dem Hocker sitzen.
- Warum belügst du alle, du Fotze?
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Meine Liebe,
Ich habe aufgehört zu atmen. Nun mit Zensur:
M-Wort/land;
M-Wort/sprache;
M-Wort/gefühl;
M-Wort/komplex;
M-Wort/herz;
M-Wort/leib;
M-Wort/liebe;
Ich denke an deine Hände in meinen Haaren, die mich über den Boden ziehen.
Ich denke an deine Stimme, die mir wegen des Weinens droht.
Ich denke an deinen ruhigen Atem im Schlaf, als ich blutüberströmt unter deiner Zimmertür lag.
Diese Nacht wurde ich zu einer zitternden Kreatur, in der Gestalt von “das Recht habende”.
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Meine Liebe,
du hast meinen Schlüssel, mein Handy und meine Würde genommen und bist zur Maniküre gegangen.
Du hast widerlich viel Angst.
Ich weiß nicht, was ich in den folgenden Zeilen sagen soll.
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Meine Liebe,
ich glaube allem, was du sagst, immer und immer wieder, bis ich es selbst glaube.
Schwindel. Übelkeit.
Sie leuchten mir mit einer Taschenlampe in die Augen.
Deine Beine zittern.
Meine Lippen wiederholen die Worte "Ich bin nur dummerweise umgefallen".
Sie glauben. Ich bin in Sicherheit.
Ich rufe meinen Tanten, meinen Onkel, meine Verwandten, meine Freunde, meine Fremde an.
Die Blicke auf den Gesichtern überwiegen die Wahrheit.
-Es kann nicht wahr sein, sagen sie.
-Sei nicht so dramatisch. Es ist doch deine Mutter, sagen sie
Genau in einer Stunde holst du mich zurück zu dir, weil du jetzt Angst hast, ins Gefängnis zu kommen.
Ich habe nur Kopfschmerzen.
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Meine Liebe,
Niemand lacht mehr darüber, als ich es tue. Aber niemand lacht mehr.
-Und wage es nicht, mich vor anderen zu blamieren!
Erst jetzt merke ich, dass ich dein müßiges Schweigen hasse.
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Meine Liebe,
Ich erinnere mich, wie oft ich mich wiederholt habe. Ich erinnere mich, wie wenig du mich verstanden hast.
Du sagst mir, dass das Wichtigste ist, dass ich nicht ohne Mutter aufgewachsen bin.
Du verlangst dafür eine Zahlung in Währung, vorzugsweise in Euro.
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Meine Liebe,
Du hast heute wieder zehnmal angerufen.
Du fragst dich, ob deine Tochter noch einen Anruf wert ist.
Ich verschaffe mir nur Zeit der Vergessenheit.