Eine luxuriöse Wohnung.
Eine über hundert Quadratmeter für über hunderttausend Rubel im Monat, im Zentrum, am Zwetnoi Boulevard Wohnung.
Eine versteckt vor den Blicken Wohnung.
Eine im Hof Wohnung.
Eine allein mit der Mutter Wohnung.
Allerdings nicht ganz allein.
Aber für den Anfang reicht diese Wohnung eindeutig.
Und doch eine sehr hässliche Wohnung.
Eine im Stil der Mutter Wohnung.
Eine mit Gegensprechanlage und Wachmann unten Wohnung.
Eine neben dem Zirkus Wohnung.
Eine ohne Vater, der mit Erlaubnis der Mutter vor einem Jahr in unser Leben trat, Wohnung.
Die Mutti ist eifersüchtig.
Die Mutti arbeitet bei der Sberbank.
Sie hat ein neues Auto und drei glänzende Ringe – drei Heiratsanträge.
Alle drei, glänzen abwechselnd an ihren Fingern, wenn sie mir die nächste Ohrfeige gibt, wieder einmal.
Eine nah am Roten Platz Wohnung.
Mit verschmolzenen Nachbarn, die nichts hören, nichts sehen und im Allgemeinen so tun, als gäbe es uns nicht, Wohnung.
Wie widerlich, wie ekelhaft.
Ich fühle mich wie eine Provinzlerin.
Alles wieder von vorne.
———
Wieder Schule.
Eine neue Schule.
Eine verschmolzene Schule im Zentrum Moskaus.
Neue Menschen.
Oft hässliche Menschen.
Reiche Menschen.
Und auch Arme gibt es.
Sind wir arm?
Sind wir reich?
Ich schäme mich.
Es gibt keinen Ort, wohin man fliehen kann.
Hinter den Städten rauchen Jungen.
Ich gehe Buchweizen kaufen, im Kiosk, zwei Minuten vom Roten Platz.
Supermärkte gibt es in der Nähe keine.
Ich gehe viel spazieren.
Ich habe kein Internet auf dem Handy.
Ich finde kaum den Weg nach Hause.
Ich versuche, meine Traurigkeit wegzulaufen.
Ich versuche, meine Verluste wegzulaufen.
Ich versuche, die Schule wegzulaufen.
Die Mutti kommt nachts nach Hause.
Die Mutti kommt wütend nach Hause.
Ich sauge weiter unsere neuen vier Zimmer.
Trotz der vielen Zimmer schlafen meine Schwester und ich in einem.
Und die Türen – die Türen müssen immer offen bleiben.
Sonst wird Mutti böse.
Sonst bekommt Mutti Panik.
Sonst schreit Mutti wieder.
Und trotzdem.
Ich habe wieder zugenommen.
Wir haben ein neues Kindermädchen.
Eine Ukrainerin.
Wie bei Mutti’s Schwester auch.
Mutti sagt, Ukrainerinnen seien die besten Hausfrauen.
Das Kindermädchen wohnt in einem unserer Zimmer, in dem ich hätte wohnen können.
Wir protestieren nicht mehr.
Ich liebe nur das Fotografieren.
Ich rufe nur schöne erwachsene Mädchen zum Fotografieren.
Manchmal bezahlen sie mich.
So kann ich wieder Buchweizen am Roten Platz kaufen.
Die Moskauer haben es eilig.
Die Moskauer tragen Pelzmäntel.
Die Moskauer protestieren nicht und genießen den Luxus.
Die Moskauer lieben die Nähe zu anderen Moskauern in der U-Bahn zur Stoßzeit.
Noch nie habe ich eine so riesige U-Bahn gesehen.
Vielleicht nur im letzten Jahr in Paris?
Meine erste Reise nach Paris mit der sibirischen Großmutter.
Vor Moskau die Reise.
Verknüpft mit dem Umzug in die neue Wohnung Reise.
Eine hässlichere Wohnung habe ich selten gesehen.
Eine bezahlt mit Geld ohne Ersparnisse Wohnung.
Eine bezahlt mit Geld für meine Zukunft Wohnung.
——
Heute bin ich so müde,
dass ich nicht genau weiß, worüber ich schreiben soll.
Die Zeiten verflechten sich ins Jetzt,
prügeln auf die Zukunft ein.
In meinen Ohren zittert Musik,
gesammelt von mir vor mehr als zehn Jahren.
Neben all den „Lieben“ und „Anderen“ erinnere ich mich nicht genau, was noch geschah.
Oder besser gesagt – ich erinnere mich genau.
Ich will nur nicht mehr darüber.
Diese Geschichte schneidet bis heute wie eine Klinge in meinem Magen
und ruft eine eintönige, bleierne Traurigkeit hervor.
Nicht immer ist klar,
was mir damals mehr weh tat.
Dass mich die Erkenntnis packte, dass „häusliche Gewalt kostenlos, ohne SMS und Anmeldung“ nicht mit meiner Vorstellung von der Welt übereinstimmt?
Oder dass ich in einer Nacht aufhörte zu glauben, dass alles gut werden würde?
Beides ist eine so mühsame Arbeit der Wiederherstellung,
dass ich glaube, man wird mit diesem Schmerz nie wirklich fertig.
Dieser Berg von Schmerz kann nur durchlebt oder ertragen werden.
Dieser Berg von Schmerz bleibt in den Details:
im Geschirrspülen,
im Toilettengang,
in Gesprächen über die Seele,
in intimen Begegnungen,
in Gedanken, Ideen,
in der Art, wie ich die Welt fühle.
Der Berg des Schmerzes ist mir auf dem Rücken gewachsen –
zu einem Buckel.
Zu einem solchen Buckel,
dass ich die Spiegel in meinem Zimmer mit Stoff verhängte und mich ohne Scham nicht mehr ansehen konnte.
Ein interessantes Gefühl: Scham.
Eigentlich fügt mir ein anderer Mensch Schaden zu,
und doch schäme ich mich – so scharlachrot, so heiß.
Und mein ganzes Leben lang war mir schamvoll,
ist mir schamvoll,
und wird mir schamvoll sein.
Und nicht für den anderen schäme ich mich.
Gott, denkt das ja nicht!
Sondern für mich selbst.
Für meine „Kleinheit“, meine „Zerbrechlichkeit“,
dafür, dass ich nicht voraussah,
nicht kämpfte,
nicht floh,
nicht zurückschlug,
mich nicht verteidigte,
nicht irgendetwas tat, um es zu stoppen.
Irgendwann ist es so schamvoll, sich zu schämen,
dass das Dunkel des abgebrochenen Lebensstücks nur noch sabotiert.
Es ist schamvoll, nichts zu kontrollieren.
Schamvoll, nicht zu erzählen.
Schamvoll, sich zu öffnen und zu sagen.
Schamvoll, sich selbst zu berühren.
Schamvoll, Dinge zum Vergnügen zu tun.
Denn vor allem ist es schamvoll, zu sein.
Zu existieren –
im Bewusstsein,
dass mit einer wie mir das so oft geschah.
Dass die Menschen ringsum schweigend zusehen.
– Sicher wussten sie alle Bescheid!
Nur mit dem Finger zeigen sie auf mich.
Nur mich verurteilen sie.
Denn mit mir stimmt etwas nicht.
– Sagt mir, bitte, ihr kühleren, starken Menschen,
wie soll ich denn weiter damit leben?
– Und möge dich das Leben mit dem Licht der Vergebung belohnen!
Dieses Thema, dieses Konzept der Vergebung,
habe ich nie verstanden.
Denn ich begehre nur eines: Rache.
Süßliche, eisige, klinisch reine Rache.
Nur damit sie leidet.
Oder noch schlimmer?
Schlimmer = besser.
Wie sonst?
Damit sie zertreten wird,
gedemütigt,
grausam behandelt,
verachtet,
allein gelassen zum Sterben,
damit niemand ihr hilft.
Und schließlich –
meine Seele sehnt sich danach –,
dass man Steine nach ihr wirft
und sie schief ansieht.
Damit die Umstehenden, die Fremden,
irgendwann auf meiner Seite stehen.
Damit ich beweise, wie ein Theorem,
dass ich noch etwas wert bin.
Und süß sind mir die Träume,
in denen sie stirbt wie ein Hund.
Denn das ist es, was ihr zusteht.
Darum frage ich mich neugierig:
Von welcher Vergebung ist da eigentlich die Rede?
Denn das erste Gesetz der Menschheit,
das babylonische,
lautete:
Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Und damit – basta.
Aber wer gibt mir meine so lächerlich vergeudete Zeit zurück?
– In der Vergebung liegt Kraft,
denn man vergibt für sich, nicht für andere!
Aber auch mir selbst kann ich nicht vergeben.
Und so im Kreis,
so im Kreis.
Ach, ach, ach!
Und so wundervoll ist das Leben,
in dem es dich nicht mehr gibt.
Nur das macht mich grausam, schlecht, unschön –
und doch mich selbst.
Ich werde mir nie vergeben,
dass ich damals nicht gegangen bin.
Aber wohin hätte ich gehen sollen?
Zu wem?
Wozu und warum?
Denn mit fünfzehn liegen Himmel und Wind noch vor dir.
———
Und wie ich darüber manchmal denke und es sehe, wenn ich all diese Menschen in meiner stickigen Seele auf den vorherigen Seiten niederschreibe:
so selten war ich allein.
So selten habe ich eigene Entscheidungen getroffen.
So oft habe ich meine Zügel jedem überlassen, der in der Hand einen grünen, gelben, roten, wurmstichigen, keimenden Apfel hielt. All das ist nicht so wichtig.
Doch was formt eine Persönlichkeit, wenn nicht Entscheidungen?
Die Wendungen des Schicksals wie Zickzacklinien des Labyrinths des Lebens.
Seit meiner Kindheit habe ich keine Entscheidungen für mich selbst getroffen.
Mein Kleidungsstil war durch meine Mutter vorbestimmt.
Was ich an der Universität studieren sollte, entschieden mein Onkel und meine Tante, die damals mein Studium bezahlten.
Ich hatte sehr wenige Wünsche. Ich wusste nicht, was ich wollte.
Ich wusste nicht, wer ich werden wollte.
Ich wusste nicht, wer ich war.
Ich suchte Antworten in den Menschen um mich herum – in ihren Worten, Taten, Handlungen und Haltungen mir gegenüber.
Wenn ich es nicht wusste, wusste es bestimmt jemand anderes.
Ich wartete auf die Stimme Gottes, die auf die Erde herabsteigen und mir Erkenntnis über mich selbst geben sollte.
Und nicht, dass Selbstreflexion schwierig wäre. Selbstreflexion ist kaum möglich, wenn es innen dunkel ist, unruhig, und es keinen Boden gibt.
Jeder Blick, der mich ansah, erleichterte mein Leiden.
– Werft mir ein bisschen Selbstbewusstsein für den kommenden Tag zu!
– Und der Herr sei mit dir.
Der Herr, der mich nicht mit Wünschen gesegnet hat. Oder hatte ich sie einst?
Oder wurden sie von Anfang an von meiner Umgebung erstickt?
Dass ich in der Schule eine Musterschülerin war, war eine absolute Farce.
Mich zog es auf die Barrikaden.
Doch Punkt 19:30 Uhr musste ich von ihnen herabsteigen und vor der Rückkehr meiner Mutter staubsaugen.
Und wie seltsam, dass es immer Menschen gibt, die genau wissen, was du willst.
Weil sie mich kennen. Obwohl ich mich selbst nicht kenne.
Und die ganze Last der Verantwortung für Getränk, Speise, Beruf, Charaktereigenschaften kann man immer auf andere abwälzen.
Denn die anderen sehen klarer, wissen besser, objektivieren mich bis zum Glas, in das sie mir Tomatensaft einschenken.
Denn sie wissen genau, was ich will.
Denn sie wissen genau, wer ich bin.
Nur sagen sie es mir nicht.
Sie flüstern nur miteinander.
Bin ich rothaarig? Blond? Brünett? Grau? Aschblond?
Ich weiß es, verdammt, nicht!
Denn ich sehe mich nicht in der Dunkelheit.
– Und wenn du dich in deiner eigenen Dunkelheit einrichtest, wird das Licht der Erkenntnis in dir aufgehen.
——
Mutti entscheidet für mich.
Vati entscheidet für mich.
Schwesterchen entscheidet für mich.
Meine Geliebte entscheidet für mich.
Mein Geliebter entscheidet für mich.
Ich wähle nur jene, die entscheiden können.
Und das ist meine Entscheidung, nicht von mir vorherbestimmt.
Denn alle, denen ich gefalle, gefallen mir.
Sie tauchen in meinen Fantasien auf, entkleiden sich bis aufs Letzte;
denn ich bin schon entschieden.
Ich entscheide nur, wann ich die nächste Runde beginne.
So ist das.
Deshalb glauben alle Russen an das Schicksal.
Es ist einfacher so.
———
Heute fahre ich im Schnellzug.
Ich versuche nicht mehr, schmollend zu sein.
Ich habe die Hälfte der Masken abgenommen und auf dem Gesicht nur die liebsten davon gelassen.
Ich sorge für mich und verwöhne mich.
Ich habe mich so sehr verwöhnt, dass mein Körper zugewuchert ist.
Die Selbstliebe ist natürlich ein zweischneidiges Schwert.
———
Und nun in einem anderen Schnellzug, auf dem Weg in die Zukunft!
In die helle, strahlende, glänzende Zukunft!
Ich erinnere mich, dass ich vor nur sechs Jahren versucht habe, meine Wünsche zu begraben.
Bis heute werden die Verschütteten ausgegraben.
Und dennoch.
Ich habe schon über Wesen und Wahl geschrieben, über Wünsche und Träume, über Spiegelungen und Dunkelheit.
Heute will ich über Kunst schreiben!
Darüber, wie ich die Welt verlor und wiederfand.
Darüber, wie seltsam das Leben ist.
Als ob das nicht jeder denkt, der wenigstens einmal im Leben wie ein Baumstamm auf dem tiefen Grund gelegen hat.
Das Interessanteste am Dasein des Baumstamms auf dem Grund ist der Fall.
Der Fall ist das Schlimmste.
Der Fall ist mit dem Nebel des Unbekannten verbunden.
Auf dem Grund kann man sich niederlassen ohne Bewegung,
oder man stößt sich doch weg und kommt als Baum an Land.
Im Fallen aber ist das Zweifeln.
— Wohin fliege ich?
— Was wird sein, wenn ich ankomme?
— Was, wenn ich falle und zerschelle?
Und sonstige, absolut unwichtige Fragen.
Denn Fakt bleibt Fakt: das Fallen wird eines Tages zum Grund.
Der Tod ist deshalb so furchtbar,
weil, solange wir leben, er unausweichlich ist.
Wir fallen mit den Jahren in den Tod, manchmal durch Taten oder unklare schicksalhafte Motive.
Und wo Geburt ist, da ist in diesem Fall immer ein Punkt des Endes.
So ist das.
——
Über die Kunst:
Ich erinnere mich gut an den usbekischen Teppich, an ein Glas mit Erdbeer-Milch-Getränk und an Filzstifte in meinen Händen.
Manchmal Farben.
Manchmal Buntstifte.
Manchmal alles zusammen.
Ich bin vier, meine Zeichnungen werden gelobt.
Dann nehme ich meine gelobten Zeichnungen und male sie weiter.
So verwandelt sich das blaue Kleid der Prinzessin in ein eklig-grünlich-braunes.
Wie viele unerforschte Möglichkeiten!
Wahrlich, wenn meine Mutter meine Experimente und Studios sieht, seufzt sie jedes Mal traurig und fragt, warum ich das Bild ruiniert habe.
Als ob Fehler kein Teil des Erfolgs wären.
Die Mutter zu erzürnen war allerdings auch nicht in meinem Interesse.
Irgendwann hörte ich auf, ruhig zu sein, ich veränderte das Bild wieder und wieder.
Die Anzahl der Bilder wurde mit jedem Tag weniger.
Auch weil ich in einem Anfall von Wandel den Inhalt des Glases auf den Teppich verschüttete.
Der idiotische Teppich.
Ewig abgenutzt durch die nukleare Mischung aus Reinigungsmittel meiner Mutter, der Teppich.
Oh, wie sie wütend war.
Und jedes Mal begann alles wieder von vorn.
———
Die Kuppeln schimmern im aufgehenden Sonnenlicht golden. In der Umgebung riecht es nach Metall, großstaatlichem Pathos und Schweiß. Es riecht nach Pirozhki und Aufstoßen, gemischt mit Uringeruch auf den Gehwegen und Plätzen. Von den Bäumen geht ein Benzingestank aus und von früh bis zum Sonnenuntergang quälen vorbeifahrende Schwerlastfahrzeuge die Fußgänger mit Abgasen, bis der klare Himmel in Stille übergeht. Bald wird es gewittern. Ich weiß es. Ich rieche es. Ich fühle es.
Vor meinem Haus beugt sich Juli vor.
Er starrt auf den verschmutzten Gehweg.
Er hockt, ohne die Fersen vom Boden zu heben, gekleidet in einen sportlichen, blutgetränkten Anzug.
Er spuckt abgeknabberte Reste öligen Sonnenblumenkernen aus, während ich mich leise vorbeischleiche.
„Wohin gehst du, du Schlampe?“
„Nach Hause.Nach Hause?“, stottere ich ein Gebet zu meinem alten Gast.
Juli nähert sich mir bedrohlicher als jedes Gewitter und lacht mich aus.
Ich spüre: Es ist Zeit, zu fliehen.
Ich spüre: Es ist Zeit, zu kämpfen.
„Du hast die Wahl,du Schlampe!“, ruft Juli und ist wieder stinkig.
Ich will einfach nur heim.
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Ich zögere lange in Gedanken, während mein Kopf sich fest durchsetzt:
"Ach, das ist auch ein Teil meines Lebens, den ich weder wegwerfe, noch erlebe, noch dem Impuls nachgebe, noch kann."
Schließlich beflecke ich ein leeres Blatt Papier und überschatte es mit meiner aufgeblasenen Gleichgültigkeit. Doch sobald ich mich zum Schreiben hinsetze, werden die Buchstaben an meinen Fingern zähflüssig: Als könne, wolle und möge ich nicht schreiben.
Der Kloß im Hals verwandelt mich in eine aggressive Bestie, die zu töten imstande ist.
-Du, versuch’s nur der Tür während meiner Beichte zu nähern, -grinse ich.
Dies ist also ein Geständnis?
-Nur der Himmel, nur der Wind, nur Freude vor uns.
-Und möge Deine Sünden Dir vergeben sein!
Erstes Geständnis:
Es gibt so Träume, wenn man aufwacht und dafür dankbar ist.
Morgens träume ich wieder von einer Julinacht. Dann weiß ich, dass sich der Juli auch dieses Jahr endlos anfühlen wird.
So spucken Menschen um mich herum die bekannten Sätze wieder aus.
So forderst du wieder meine grenzenlose Zärtlichkeit.
So fühle ich mich grausamer als sonst.
Alles dehnt sich und dehnt sich und dehnt sich.
Das Gefühl der letzten Klippe zieht bereits vor mir mein Hemd aus. Es legt den senilen, altersschwachen Körper eines verschobenen Problems frei.
„Hin und wieder landet ihre Hand auf meiner Wange. Ich weiß nicht wie, aber im Traum fange ich sie ab, in der Realität macht sie es aber weiter“.
"Was ist denn passiert?"
„Komm, ich erzähle es dir!“
Zweites Geständnis:
Draußen ist es schon dunkel.
Ich eile von Chistye Prudy zum Tsvetnoy Boulevard hinunter.
Mein Herz rast nach oben, während ich den Hang hinunterstürze. Natasha holt mich auf der rechten Seite ein. Mein Atem ist getränkt mit Weißwein und weißem Blauschimmelkäse.
Natasha sagt, ich solle keine Angst haben.
Ich schreibe eine weitere SMS.
Ich schreibe, dass ich zu spät komme.
Ich schreibe es noch einmal.
In den nächsten Minuten verfasse ich fünf solcher SMS.
Natasha hält mich für einen Feigling. Ihr Haar flattert bei der Geschwindigkeit ihrer Schritte so wunderschön. Sie hat volle Lippen und dunkel umrandete Augen.
Uns trennen Jahre.
Die letzten Meter vor der Ankunft und meine Nerven zittern.
Natasha sagt mir, ich solle keine Angst haben.
Ihre Lippen spüre ich auf meinen. Sie wünscht mir viel Glück. Natasha sagt, dass es ein Glückskuss war.
Das Treppenhaus,
die Tür,
meine Gedanken, dass man den Menschen keine Aufkleber aus meiner Erwartung aufzwingen kann,
das Lächeln des Wachmanns,
der Knopf,
der Aufzug,
das Stockwerk,
die andere Tür,
die Schwelle,
das Schloss,
der Schlüssel.
die Stille.
„Komm, komm her!“
Ich gehorche.
„Oh, du, du Fotze!“
Eine Ohrfeige.
Sie steht auf und geht ins Bad. Ich folge. Ich bitte um Vergebung.
Sie befiehlt mir, ihr ins Gesicht zu atmen.
Ein zweiter Schlag ins Gesicht,
eine Faust auf meinem Kopf,
eine Faust in meinem Bauch,
ihr Fuß in meinen Rippen,
eine Ohrfeige auf ihrem Gesicht.
„Wie kannst du es wagen, wie kannst du es wagen?"
Sie nimmt ein Beruhigungsmittel und schläft ein.
Ich erinnere mich an nichts weiter: Weder an Details, noch an Zeugen, noch an Gerüche, noch an Geräusche, noch an Gefühle, noch an die Tatsachen.
Ich erinnere mich nur daran, dass es viele ähnliche Szenen gab.
Drittes Geständnis:
Aber Gott, wie bin ich es leid, Wort für Wort, Geste für Geste, Detail für Detail das Gleiche zu wiederholen.
Als ob es nichts Interessanteres gäbe, als ein Opfer zu sein.
Als ob es nichts Interessanteres gäbe, als eine Exhibitionistin zu sein.
Als ob es nichts Interessanteres gäbe, als Mitleid in den Augen der Zeugen zu suchen.
Am Ende wird es kein Ende hinter dem Ende geben.
Ich ändere den Titel des Dokuments in „Opfer“, als würde ich mich damit abfinden.
Viertes Geständnis:
Und Trauer wird wie eine Sekunde der Berge erscheinen, wenn alles nicht so realistisch wäre.
Es ist wieder Juli, gerade mal ein Jahr her. Wieder ein Traum, wieder eine Geschichte, wieder ein einseitiges, vertrautes Mitgefühl.
Neuer Gedanke.
„Warum hast du immer noch Kontakt zu ihr?“
Es ist ungefähr 10 Jahre her. Ich bin mir nicht mehr sicher.
Dennoch.
„Du hast stark zugenommen, das steht dir nicht“, sagt sie.
Ich reiße mir die Haare auf meinem Kopf aus. Ich denke darüber nach, wie ich mich irgendwann in ein Biest verwandeln möchte;
„Nur. Wenn du mit den anderen sprichst, sag nichts über meine Beziehung zu dir, okay?“
In meinem Kopf herrschen ihre Angst und mein Ekel,das in der Stimme auf den Drähten meines Mobiltelefons verborgen bleibt.
Pause.
Morgen wird’s gleich sein.
Fünftes Geständnis:
Morgen wird’s gleich sein?
—----
Liebe Mutter,
Mach dir keine Sorgen um mich.
Ich habe deine zehn Anrufe von gestern gesehen.
Ich möchte gerne eine Pause haben.
Darf ich?
Ich hatte wieder diesen Traum.
—---
Pause.
Sechstes Geständnis:
Ein Jahr ist seitdem vergangen.
—--
Meine Trauer stinkt. Seit Jahren.
Sie wird nur müde von mir.
—---
Wir werden nun beide wütend.
—------
Schon drei Jahre sind rum.
—----
Meine erste Erinnerung habe ich aus den Aufnahmen, die meine Mutter mit der Videokamera gemacht hat. Meine Kindheit im Film = meine Zweifel an meiner Existenz.
Ich erinnere mich an nichts,
ich erinnere mich nicht.
Und das war's.
Hier, meine Mutter filmt, wie ich aufwache.
Ein Moment der Zärtlichkeit, den sie festgehalten hat.
Man hört das Summen des Vergrößerungsknopfes.
Es ist alles so still. Ich schaue brav in die Kamera.
—----
Hier. Ich sitze auf dem Sofa und weine. Meine Mutter sagt, dass ich weine, weil sie mir sagte, dass ich dick geworden bin.
-Es ist doch dumm, sich über die Wahrheit zu ärgern!
—---
Da. Meine Mutter filmt, wie ich im Wasserpark hinunterrutsche.
Da. Ich schaue wie immer in die Kamera.
Im nächsten Bild verliere ich sie aus meiner Sicht.
Dann werde ich von fremden Leuten zum Ausgang geführt. Sie vesprechen mir viele Süßigkeiten, wenn ich mitkomme.
Meine Mutter erzählte oft, wie sich ihre Augen in diesem Moment innerhalb einer Sekunde von braun bis grün verfärbten.
Noch sagte sie ein paar Jahre später dazu, dass es nur mein Alptraum war.
Nun gut: Wir können ihr keinen Vorwurf machen.
—---
Hier. Die Kamera meiner Mutter richtet ihren Blick auf den See außerhalb der Stadt.
Die Kamera hält fest, wie ich auf dem Eis des Sees laufe.
Im nächsten Moment macht die Kamera ein Foto, wie ich ins Eis einbreche.
Die nächsten zehn Sekunden des Films sehe ich meine Mühe,aus der Falle zu fliehen.
„Das war überhaupt nicht so!“
Möglicherweise.
—----
Aber eine Erinnerung habe ich doch behalten.
Die Erinnerung, wie ich meine weinende Mutter nach den Schlägen auf meinen Wangen beruhige.
Die Erinnerung, wie sie mich um Vergebung bittet und um Mitgefühl für ihr Leid, ohne dass ich mir meines bewusst bin.
Das war das einzige Mal, dass sie mich um Vergebung gebeten hat.
—----
Wieder alles von vorn.